Ankunft in Longtan

Deutsche Übersetzung der überlieferten Chan-Erzählung "到了龍潭 - Arrive at Longtan" mit einem Kommentar vom ehrwürdigen Meister Hsing Yun aus seinem Buch 禪話禪畫 - Chan Heart, Chan Art.

Meister Deshan war ein angesehener Chan-Meister, der die Sutras und das Dharma im Norden lehrte. Die ungewöhnlichen Lehrmethoden der südlichen Chan-Schule, bei denen man sich nicht immer streng auf die Schriften bezog, missfielen ihm. Daher begab er sich, sein Werk “Der Blaue Drache - Kommentar zum Diamant-Sutra” mit sich führend, in den Süden, um dies dort zur Sprache zu bringen. Kaum war Meister Deshan im Süden angekommen, musste er schon den Spott einer älteren Dame ertragen. Sogleich zügelte er sein übermäßiges Ego. Er fragte die ältere Dame, ob sie einen etablierten Chan-Meister kenne, der hier in der Nähe lebe und den er für gemeinsame Studien aufsuchen könne. Die Ältere Dame erzählte ihm von Meister Longtan, der ein anerkannter Chan-Meister sei und fünf Meilen entfernt von hier lebe.

Als Meister Deshan in Longtan ankam und Chan-Meister Longtan erblickte, fragte er diesen aufgeregt: “An welchem Ort bin ich hier?”

Meister Longtan antwortete: “Du bist in Longtan!”

Meister Deshan fragte daraufhin mit mehr Nachdruck: “Der Ort hier wird zwar Longtan, Drachenteich, genannt. Wenn ich mich jedoch hier umschaue, sehe ich überhaupt keine Drachen und keinen Teich. Wie kommt das?”

Meister Longtan entgegnete Meister Deshan: “Du hast große Strapazen auf Dich genommen, um hier­her zu kommen. Nun bist Du in Longtan angekommen!”

In der Nacht begab sich Meister Deshan zu Meister Longtan, damit er ihn nach Anweisungen fragen konnte. Er stand vor dem sitzenden Meister Longtan, eine lange Zeit, ohne sich zu rühren. lrgendwann meinte Meister Longtan: “Es ist sehr spät. Warum gehst Du nicht?"

Daraufhin wünschte Meister Deshan ihm eine gute Nacht und ging. Als er aber an der Tür ankam, drehte er sich noch mal um und bemerkte: “Es ist wirklich dunkel draußen. Ich bin hier neu angekommen und kenne mich in der Umgebung nicht so gut aus.”

Sodann zündete Meister Longtan eine Kerze für ihn an. Aber als Meister Deshan sie gerade entgegennehmen wollte, blies Meister Longtan die Flamme wieder aus. ln diesem Moment spürte Meister Deshan mit einem Mal tief in sich ein Erwachen. Er kniete auf der Stelle nieder und verbeugte sich vor Meister Longtan. Dieser fragte ihn: “Was hast Du gesehen?”

Meister Deshan antwortete “Von diesem Tag an werde ich hinsichtlich der Äußerungen aller Chan-Meister unter dem Himmel nie wieder irgendwelche Zweifel haben.”

Am nächsten Tag nahm Meister Deshan den von ihm verfassten Kommentar und verbrannte ihn. Während die Flammen emporstiegen, sagte er: “Lange, ausführliche Debatten in die zu führen, ist so, als ob man ein einzelnes Haar in die Luft bliese. Diskussionen über alle möglichen Probleme dieser Welt sind so bedeutungslos wie ein Tröpfchen, das in ein Tal fällt.”

Die Sutras, wie tiefgründig Vorträge darüber auch sein mögen, sind nur sinnlose Auseinandersetzungen. Die Chan-Schule funktioniert ohne Worte. Letzten Endes ist das Erwachen - das Ziel der Chan-Schule –jenseits des Verstandes der Dualitat. ln einer dunklen Nacht eine Kerze anzuzünden und sie wieder auszublasen, veranschaulicht, dass, nach dem Auslöschen des äußeren Lichtes, das Chan­ Licht des inneren Geistes zu leuchten beginnt. Mit diesem Chan-Licht sehen wir deutlich unser wahres lch. Was wir Sprache nennen, jede Form von Schrift und das unterscheidende Bewusstsein sind nur kleine Tropfen in einem weiten Ozean.


(© 2019.01, FGS Frankfurt, Übersetzung : Chris Cheung )