Ich bin nur ein Diener
Deutsche Übersetzung der überlieferten Chan-Erzählung "我是侍者 - I’m an Attendant" mit einem Kommentar vom ehrwürdigen Meister Hsing Yun aus seinem Buch 禪話禪畫 - Chan Heart, Chan Art
Nationallehrer Nanyang Huizhong war dankbar für die Dienste, die sein Diener 30 Jahre lang für ihn verrichtet hatte. Er wollte sich dafür erkenntlich zeigen und seinem Diener dabei helfen, Erleuchtung zu erlangen.
Eines Tages rief er seinem Diener zu: „Diener!“
Als der Diener Meister Huizhong rufen hörte, fragte er auf der Stelle: „Meister Huizhong, was benötigen Sie?“
Meister Huizhong entgegnete ratlos: „Nichts!“
Nach einer Weile rief Meister Huizhong erneut: „Diener!“
Wieder fragte der Diener sofort: „Meister Huizhong, was benötigen Sie?“
Meister Huizhong antwortete erneut in einer ratlosen Art: „Nichts!“
Nachdem sich dieser Vorfall etliche Male wiederholt hatte, änderte Meister Huizhong seine Vorgehensweise gegenüber dem Diener und schrie laut in dessen Richtung: „Buddha! Buddha!“
Äußerst ratlos fragte der Diener: „Meister Huizhong, wen rufen Sie da?“
Meister Huizhong hatte keine andere Wahl als es dem Diener ohne Umschweife zu verdeutlichen: „Ich rufe nach dir!“
Der Diener jedoch verstand dies nicht und bemerkte: „Meister Huizhong, ich bin nur ein Diener, kein Buddha!“
Diesmal konnte Meister Huizhong nur noch laut wehklagen: „Wirf mir in späteren Zeiten nicht vor, ich hätte dich enttäuscht, da du es in Wirklichkeit bist, der mich enttäuscht hat.“
Der immer noch einsichtslose Diener sprach: „Meister Huizhong, ganz gleich was geschieht, ich werde Sie nie enttäuschen und ebenso wenig werden Sie mich jemals enttäuschen.“
Meister Huizhong sagte: „Die Wahrheit ist, du hast mich bereits enttäuscht.“
Der Nationallehrer und der Diener - wer hat hier wen enttäuscht? Lasst uns nicht darüber diskutieren. Wie auch immer, der Diener erkannte sich selbst nur als Diener und scheute davor zurück, die Buddhaschaft auf sich zu nehmen. Das ist sehr bedauernswert. Die Chan-Schule betont, dass man Pflichten geradewegs übernehmen sollte. Es gibt eigentlich keinen Unterschied zwischen dem, was wir Bewusstsein nennen, einem Buddha und empfindsamen Wesen. Dennoch sehen sich fühlende Wesen nur als solche und nicht als Buddhas. So versinken sie im Kreislauf von Wiedergeburt und Tod und sind nicht in der Lage heimzukehren. Das ist tragisch!
Chan-Meister Wumen sagte einmal: „Wenn man andere einen eisernen Cangue ohne Öffnung tragen lässt, hat das zur Folge, dass die Nachfahren keine Ruhe haben werden. Um eine Tür zu sichern und ein Haus zu stützen, muss man einen Berg aus Messern barfuß hinaufsteigen.“
Meister Huizhong, der in fortgeschrittenem Alter und einsam war, versuchte - so wie jemand, der den Kopf eines Ochsen nach unten drückt, damit er Gras frisst - den Diener zur Erleuchtung zu drängen. Am Ende konnte leider nicht mehr geleugnet werden, dass der Diener lediglich ein Diener war und noch kein Buddha.
(© 2019.08, FGS Frankfurt, Übersetzung : 張展翊;Korrekturlesen : 張領豪 )